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Writings

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Schaumburgergasse

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Der Opel Kapitän bog gemächlich rechts ab an der Paulanerkirche und fuhr ein Stück stadtauswärts, bevor er links an dem Biedermeier Brunnen mit den gefesselten Räubern den Schaumburgergrund hinauffuhr. Nichts anderes schien sich am dem späten Sommernachmittag in diesem Teil der Stadt zu bewegen, lange Schatten und sattgelbes vorabendliches Sonnenlicht gaben dem verfallenden Palais am Ende der Gasse einen müden Anschein. Der Wagen hält vor dem Nachbarhaus – in klassischem Schönbrunner Anstrich und feinsten Ringstraßen Historismus – um zu parken. Ein älterer Mann steigt aus, konservativ gekleidet in englischem Tweed und Hut, und öffnet den Kofferraum.

Jäh explodiert eine weibliche Stimme in Inneren des Wagens während die Beifahrertür aufgeht, von einem schlanken Bein aufgestoßen.

„Otto! – halt' mir doch die Tür gefälligst“.

Dabei steigt eine jüngere Frau in engem, bunt gemustertem Sommerkleid etwas ungelenk aber rasant aus dem Wagen und verliert dabei ihre Handtasche, die an den Randstein fällt. „Trottel“, ruft sie, während Otto schon gelaufen kommt, um die Krokodilhandtasche aufzuheben.

„Was musst Du denn so schreien?“, murmelt der Mann, und schließt den Wagen ab, während die auffallend schöne Frau bereits im Laufschritt in ihren schwarzen Pumps das Haus mit der Nummer 12 anstrebt.

Bevor sie im dunklen Hauseingang verschwindet, hört man noch einmal den weitreichenden Sopran: „Vergiss nicht Puppis Puppe, und die Blumen für Mama!“ Kopfschüttelnd, Paket, Blumen und eine Reisetasche in den Armen, folgt ihr der ältere Herr und wirft dabei noch einen flüchtigen Blick zurück zur Bel Etage der befreundeten ungarischen Nachbarn.

Tor wie auch Fassade des 1929 von Gustav Menzel erbauten Mehrfamilienhauses, in das die beiden nun eingetreten sind, heben sich markant von der älteren Umgebung ab: am Anfang der Schaumburgergasse die einstöckigen Biedermeier Häuser, dann die größeren Mietshäuser aus dem 19. Jh. im Historismus und Jugendstil neben dem barocken Palais weiter oben. Es gelang dem Wiener Architekten der Nummer 12 dagegen eine moderne Loos Variante im kühlem Bauhaus Purismus seiner Zeit.

Otto war 1929, als dieser Baustil in Wien populär wurde, bereits längst nach Afrika ausgewandert, nämlich kurz nach seiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg. Noch keine zwanzig Jahre alt, unverwundet aber dennoch innerlich traumatisiert, entkam er dabei dem Wunsch seines Vaters, ihn als Buchhalter im Klosterneuburger Familienbetrieb einzusetzen. Daher vielleicht sein melancholischer Blick zum Nachbarhaus aus einer früheren Zeit. In dem Blick mag auch eine gewisse Sehnsucht nach gemütlicher Gesellschaft und seelischer Unterstützung bei seiner selbstauferlegten, inzwischen bewusst schwierigen Aufgabe, seine weibliche Begleitung zufrieden zu stellen, gelegen haben.

Der rotbraun-weiße Marmor, der große Spiegel, die kühlen Metallarmaturen, sämtliche nur zur Funktion dienenden Details im Foyer des Hauses, brachten sofort Abkühlung von der sommerlichen Hitze der Stadt. Mit neuem Elan und immer noch sportlichem Ehrgeiz zwei Stufen auf einmal nehmend, macht Otto sich auf den Weg hinauf. Der Lift ist schon unterwegs in den zweiten Stock.

Das Kind war am Einschlafen und hört entfernt die schrille Glocke an der Wohnungstür. Die Großmutter geht durch den Flur an die Tür.

„Jessasmaria, jetzt kommen's erst daher“, sagt sie halblaut zu sich selber, und dann, an der Tür, zu ihrer Tochter –

„Die Kleine schläft doch jetzt schon, Ilse“, wobei die jüngere Frau an ihrer Mutter vorbei ins Vorzimmer tritt. Otto erscheint am Treppenabsatz mit seinen Paketen und neigt sich zu einem angedeuteten Handkuss zur Großmutter, nachdem er die Tasche abgestellt hat. Beide schauen sich tief in die Augen und dann den Gang entlang. Ilse (sie selbst verwendet diesen Namen nicht; den Künstlernamen Isolde hat sie sich selbst gegeben, schon als junge Frau während ihrer Ausbildung zur Sängerin) stellt ihre Tasche auf den Küchentisch.

„Hast was zu trinken, einen Wein gekühlt?“ Ohne auf Antwort zu warten, geht sie weiter auf das Zimmer zu, wo das Kinderbett ihrer Tochter steht.

Das Kind ist nun wach und fühlt, dass etwas geschehen ist. Das Große, das Helle in seinem Leben, das es bisher kennt, seine Mutter, ist wiedergekommen und ein freudiges Gefühl steigt auf. Es ist noch zu jung, zu klein, um das Gefühl aufzuteilen in ein helles und ein dunkles... etwas das es erst später, wenn es die Begriffe und die Sprache besser kennt, begreifen wird. Es richtet sich auf, zieht sich hoch an den Gitterstäben und strahlt, als die Tür aufgeht und Ilse laut jauchzend auf es zu kommt. „Nimm sie raus“, zu Otto, und „Wo ist denn Maria [das Kindermädchen]“, zu ihrer Mutter. Die Großmutter antwortet leicht vorwurfsvoll: „Die hat doch am Sonntag frei, und überhaupt zu dieser Uhrzeit, das arme Kind.“ Während Otto das Kind hochhält, es liebevoll „Tschintschero, mein kleines Äffchen“, nennt, fährt Isolde ihre Mutter herrisch an: „Es ist wie immer mit dir, Du willst mich gar nicht sehen und kannst nur keppeln und nörgeln.“ Zu Otto, mit dem immer noch strahlenden Kind am Arm – „Gib mir das Puppi, so eine widerliche Alte, immer das Gleiche.“

Dann nimmt Isolde ihr 'Puppi', diese spürt die Spannung, aber gibt sich doch der Wonne hin, der Leidenschaft, mit der die Mutter sie küsst und mit ihr spricht. Das kleine Mädchen kennt diese Intensität wohl schon von Anfang an. So schnell sie kommt, so schnell kann sie auch wieder weg sein.

Die mitgebrachte Puppe wird vorgestellt, ein Mitbringsel aus Italien, „Roberta soll sie heißen“, schwärmt Isolde begeistert und mitreißend in ihrer Begeisterung. „Schau wie schön sie ist, und sie hat Kleider und kann gehen!“ Die Puppe ist so groß wie das Kind. Beide sitzen nebeneinander und das Kind betastet vorsichtig das imposante Spielzeug. Man erzählt nun der Großmutter von der zweimonatigen Reise nach äthiopien, überreicht ihr eine Goldbrosche als Geschenk, packt Kaffee und Handarbeiten aus, die für sie, das Kindermädchen und die Nachbarn als Souvenirs gedacht sind. Allmählich wird es dunkel, und das Kind wird wieder in sein Bettchen gelegt. „Wir kommen morgen wieder!“ Isolde verabschiedet sich liebevoll und entschwindet ins Bad, ruft: „to put on some lipstick“.

Die Großmutter und Otto gehen in die Küche und, wie ein eingespieltes Team, bemitleiden sich kurz. Als die Großmutter die Briefe aus Amerika aus der Schublade holt, greift Isolde, aus dem Bad zurück, sofort danach. „Was schreibt er Dir? Gib her!“ Die Mutter sagt: „Gestern hat Friedl aus New York angerufen und nach der Kleinen gefragt, und ob ihr heute ankommt. Er organisiert den Umzug schon.“

„Aber ja, misch Dich nicht ein. Ich hab doch heute mit ihm kurz gesprochen.“

Dann verlassen Otto und Ilse den vierten Bezirk in Richtung Grinzing.

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